Arche von Rose Ausländer: „Im Meer / wartet / eine Arche / aus Sternen //
auf die / überlebende / Asche / nach der Feuerflut“

Mit diesem Gedicht, mit diesen Gedanken füllt Carola Czempik den über drei Quadratmeter großen, leeren Raum der Leinwand. Lesend, rezitierend, laut sprechend, immer wieder und wieder inwendig flüsternd; Assoziationen weckend. Mit Zitaten, Worten eingeschrieben in den Untergrund, überlagert und weggeschmirgelt, wieder formuliert, übermalt und ausradiert, so dass sie verrätselt und oft unsichtbar in den verschiedenen Schichten unter der Oberfläche weiterschwingen.
Carolas Zwiesprache ist nie geschwätzig, sondern vollzieht eine Art Anverwandlung der Sprache, durch die die Worte in den Bildraum treten. Auf- und Abtauchen gleich flüchtigen Erinnerungen.
Doch geht es nicht um die Lesbarkeit eines dialogischen Essays oder Gedichts oder um einen wie auch immer gearteten Inhalt, den die Künstlerin uns vorgeben, vorgaukeln will. Vielmehr handelt es sich um Schemen von Sprache. Die Schrift fragmentarisiert und so oft ausgelöscht und wieder überblendet bis nur noch eine Idee von Schrift bleibt, bis sie selbst zu einem Zeichen wird. Eingeschriebene Zeit.
Das Wort als künstlerischer Rohstoff, als malerisches oder zeichenhaftes Material, im wiederholten Auf- und Abtragen außerdem als bildhauerisches. Denn in den Überschreibungen, Bewegungen und Wiederholungen entsteht die originäre und erdkrustenartige Oberflächen-Haptik dieser Arbeiten.

Carola Czempik arbeitet mit Schichtungen von Farbe, aber ebenso von hauchfeinen Japan- und China-Papieren. Mal pur, wie in der Serie „Unser Leib“, dann aber auch auf Leinwand. So fungiert das Papier nicht allein als Trägermaterial im klassischen Sinne, sondern als modellierende, Form gebende Substanz.
Mit eigens entwickelten Mischungen aus Salzen und Acryl werden die Papiere bestrichen. Durch Zusätze von Granit oder Schiefer, durch Mineralien wie Alabaster, Marmor oder Quarz – bisweilen selbst gesammelt und von Hand zu feinen Pigmenten zerrieben – erhalten Carolas Arbeiten ihre subtile Farbigkeit, die geheimnisvolle Tiefenwirkung sowie ihre eigenwillige Konsistenz. Der typische Papiercharakter bleibt nur noch imaginär sichtbar oder verwandelt sich in sediment- und gesteinsartige Anmutungen.

So bildet das Papier materiell und im übertragenden Sinne eine Art Subtext, der im künstlerischen Prozess von weiteren Schichten, von Lasuren, Laugen oder Schriften überlagert wird. Diese Schichtungen eröffnen Zwischenräume, in deren Innerem keine opake Stofflichkeit vorherrscht, sondern ein transparenter und permeabler Austausch.
Durch den Prozess des Schleifens und Schmirgelns wird die Farbe zurückgenommen und bekommt zugleich diese diaphane Struktur, die durchlässig und schwingend an Schleier denken lässt, die zugleich enthüllen und verbergen; bewegen, den Assoziationsraum öffnen und Erinnerungen freisetzen.
Für Carola Czempik ist nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des deutschen Faschismus’ und mit der Shoah ein zentraler Aspekt. Ganz unterschiedliche Erinnerungen, die atmosphärisch mitschwingen aus dieser malerischen Unterwelt, dieser rätselhaften Anderswelt, in der die Sprache selbst geschichtet ist.
„Keine / Stimme – ein // Spätgeräusch“ hat Paul Celan gedichtet. Spätgeräusch, ein Begriff der für Carola zu einem Ankerpunkt ihrer Malerei geworden ist.

In Die Falte. Leibniz und der Barock schreibt der französische Philosoph Gilles Deleuze von den ins Unendliche gehenden Falten, die Gottfried Wilhelm Leibniz in zwei Etagen geteilt hat: unten sind die Faltungen der Materie, oben die der Seele. „Die obere Etage ist es, die keine Fenster hat: dunkles Zimmer oder dunkle Kammer, ausgestattet mit einer gespannten, »von Falten untergliederten« Leinwand, wie eine lebendige Haut. Diese auf der undurchsichtigen Leinwand gebildeten Falten, Stränge oder Spannungskräfte, repräsentieren eingeborene Erkenntnisse, werden aktiv aber durch die Reizungen der Materie. Denn diese löst die »Schwingungen oder Oszillationen« am unteren Ende der Stränge aus.“
Carola Czempiks Arbeiten wirken auf beiden Etagen, mit der Leinwand als Haut und den Materialexperimenten als fruchtbarem Dialog der Stoffe untereinander. Ein Dialog, den die Künstlerin auf einer weiteren Ebene mit der Literatur führt. So ist die großformatige Leinwand „Wartet eine Arche“ in der Auseinandersetzung mit Rose Ausländers eingangs zitiertem Gedicht Arche entstanden, das zweite Großformat „Terra Nullius“ im Dialog mit Rose Ausländers Während ich Atem hole.
Wobei die Lyrik Rose Ausländers nicht zuletzt auch mit ihrem Schicksal während der Katastrophen des Zweiten Weltkriegs verknüpft ist sowie mit der nationalsozialistischen Besatzung ihrer Geburtsstadt Czernowitz, die in der heutigen Ukraine liegt und somit durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine auf erschütternde Weise Aktualität erlangt. Vergangenheit und Gegenwart verwoben in einem heiklen Netz.
Denn wie heißt es in Shakespeares Drama König Heinrich VI.: „Leicht wird ein kleines Feuer ausgetreten, / das, erst geduldet, Flüsse nicht mehr löschen.“

So ist die vertikale Linie (in dem Bild im hinteren Raum) vielleicht ein Fluss, vielleicht eine Grenze oder aber der im Titel „Wartet eine Arche“ aufgerufene Kasten, der als christliches Symbol einen Schutz- und Überlebensraum darstellt und in der antiken griechischen Philosophie als Archē für den Urstoff, für das Urprinzip, aus dem die Welt erwachsen ist, stand.
Mit Zeichen wie der mittigen Stoffbahn, die unterteilt ist wie Wunden von rot umrandeten Balken sowie mit ihren eigenwilligen Texturen erinnern die Bilder von Carola Czempik an etwas Urstoffliches, an eine besondere Kraft. Aus den komplexen Schichtungen und stofflichen Reaktionen ihrer Experimente scheinen die Materialspuren bisweilen aus dem Untergrund hervorzutreten oder von der Oberfläche in die Tiefe zu dringen.
Prozesse, die die spezielle Struktur dieser Bilder entstehen lassen. Mal rau, mal zart, gleichsam dicht und durchlässig, entfalten sie eine beeindruckend haptische Qualität und Tektonik, eine Oberflächenstruktur und Farbigkeit, die, so die Künstlerin, „auf keinen Fall gemütlich" ist. Die Tektonik geht manchmal ins Reliefartige oder lässt an die im Surrealismus entwickelte Frottage denken. Leichte Wölbungen, Falten und Erhebungen, unter denen halb verborgen Dinge, Objekte und Spuren liegen, Erinnerungen schlummern. Ambivalenzen, die herausfordern und auszuhalten sind.
So, wie in der Form der Kleider in „Eh die Zeit anfing“ (das mittlere Format im zweiten Raum) und hier in „Terra Nullius“, wo die Schichtungen wie Abriebe eines Gewands wirken; wie durchscheinende Erinnerungen an imaginäre Körper, an Hüllen und Stoffe und an Menschen, die sie einst getragen haben. Vielleicht aber auch an den Engel, dessen Umriss Rose Ausländer in dem Gedicht Während ich Atem hole „verklingen“ hört.

In diesen Dialogen mit Lyrikerinnen und Schriftstellerinnen einerseits und Carolas Untersuchungen mit Pigmenten, Mineralien und textilen Geweben andererseits, mit Werkstoffen wie Wachs oder Talkum, Zellulose und Pflanzen, Kreide von Sarti oder Kapokfasern vollbringt Carola auf faszinierende Weise das, was der südafrikanische Künstler William Kentridge als „Denken im Material“ bezeichnet. Kentridge bezieht das auf die Zeichnung (aber ich finde, das passt auch sehr gut zur Arbeitsweise von Carola) und schreibt dazu:
„Es gibt ein Denken in Kohle und Tinte, in Kupfer, in Luft. Es gibt Veränderungen vom Wort zur Tinte, vom Gedanken zum Kupfer. Veränderungen in die vier Elemente: in Kohle, Feuer; in Tinte, Wasser; in Kupfer, Erde; in Worte, Luft. Damit ist nur angedeutet, dass verschiedene Materialien Gedanken verändern.“

Lassen sie mich abschließend auf eine weitere Seite der Dialogfähigkeit Carolas kommen, nämlich auf ihre Zusammenarbeit mit Kolleg*innen wie Betina Kuntzsch, für die wir ein herausragendes Beispiel im Kabinett haben, wo wir anlässlich des 10-jährigen Jubiläums die Duo-Arbeit „Salzspiegel“ zeigen.
Eine Rauminstallation, in der sich die Arbeitsweisen der beiden Künstlerinnen durchdringen und in einen erhellenden Dialog über Materialität und Immaterialität treten. Über Licht als im Hegel’schen Sinne „immaterielle Materie“ in den Video-Zeichnungen von Betina Kuntzsch, ebenso wie über die Verwandlung der materialsatten Salzpapierleibchen von Carola Czempik in lichte Objekte.
Das weiße Licht der Projektionen entsteht aus einer einzelnen Linie, die Betina zu hochauflösenden Videos animiert hat. In diesen Videozeichnungen wandert die multiple Linie in Form von Vertikalen und Horizontalen, von Diagonalen und Strudeln durch den Raum. Fällt auf Wände, umschmeichelt die Körper der Betrachterinnen und Betrachter und nimmt den Dialog mit Carolas Salzpapierleibchen auf.
Vier Objekte in Weiß-, Sepia- und Brauntönen, auf Sockeln und zwischen Acrylglas eingebettet. Die weißen von einer zarten Körperlichkeit, die in den dunkleren Objekten zu abstrakt malerischen Strukturen wird. Die Projektionen der Lichtstäbe steigern das Kristalline der Salzkörnchen, während die Linien selbst eine verblüffende Dinghaftigkeit erfahren, haptisch greifbar scheinen. Im Spiegel der flirrenden Linien, in der fragilen Luzidität der Salzkrusten entsteht ein faszinierendes Zusammenspiel, mit dem Betina Kuntzsch und Carola Czempik nicht zuletzt den Raum erweitern – auch den Gedankenraum.